Adventskalender

Am nächsten Tag kann es Olla Kirschbaum kaum erwarten, bis es endlich Nachmittag ist. Heute ist die erste Probe für das diesjährige Krippenspiel und Olla möchte unbedingt dabei sein.

Die ganze Nacht hatte sie davon geträumt, wie sie das Auswahlverfahren für die Rolle des Engels durchläuft. Eigentlich träumt Olla ja schon lange davon, die Rolle der Maria zu spielen. Aber wenn sie schon von der Rolle des Engels träumt, muss das Schicksal sein.

Deshalb entscheidet sich Olla, für die Rolle des Engels zu melden.

Als Olla am Nachmittag den Saal betritt, in dem die Probe stattfindet, erschrickt sie. Mit so vielen Menschen hat sie nicht gerechnet. Ob sie wirklich eine Chance hat?

Immer länger zieht sich die erste Probe hin. Nachdem die Hirten, die Könige, verschiedene weitere Darsteller und der Josef feststehen, ist die Rolle der Maria an der Reihe. Hier entscheiden sich die Verantwortlichen des Krippenspiels letztendlich für eine Mama mit kleinem Kind.

“Bloß gut, dass ich mich doch für die Rolle des Engels entschieden habe. Als Maria hätte ich ja niemals eine Chance gehabt”, denkt Olla. Doch als sie sich umschaut, bekommt sie Zweifel. Noch immer sitzen viel zu viele Mädchen und sogar einige Jungs da, die gern den Engel spielen wollen.

Endlich wird die Auswahl für den Engel getroffen. Und schon wieder muss Olla Kirschbaum mit erschrecken feststellen, dass alles anders ist als bisher.

Nicht nur, dass der Engel im Krippenspiel viel Text zu sprechen hat, nein, er muss auch noch singen. Eigentlich kann Olla gut singen – zumindest, wenn sie allein ist. Aber vor so vielen Fremden?

Etwas mutlos wartet Olla, bis sie aufgerufen wird. So viele vor ihr waren wirklich gut. Einige singen sogar regelmäßig im Chor. Da hat sie sicher keine Chance. Aber was soll’s, wenn Olla jetzt nicht ihren Mut zusammennimmt, wird sie es nie erfahren.

Und so stellt sie sich vor das Auswahlkomitee, macht die Augen zu, atmet tief durch, wartet auf die Musik und fängt an zu singen. Doch statt des erhofften Gesangs kommt … nichts.

Olla wird unruhig. Irgendwie fängt ihr Hals an, wehzutun. Ihre Kehle schnürt sich zu. Was soll sie jetzt nur tun. All die vielen, fremden Menschen starren sie schon an. Soll sie weglaufen?

Olla gibt sich einen Ruck und versucht es ein zweites Mal. Sie singt, noch bevor die Musik richtig begonnen hat. Sie singt, ohne auf den Takt und den Text zu achten. Als sie nicht mehr weiter weiß, schaut sie in die Gesichter der Verantwortlichen, die wie versteinert vor ihr sitzen.

Sie hat es versucht.

Olla Kirschbaum ist stolz auf sich. Sie ist nicht weggelaufen und hat das erste Mal in ihrem Leben vor so vielen fremden Menschen gesungen. Ok, es hätte besser laufen können, aber das spielt für Olla im Moment keine Rolle. Sie ist einfach froh, dass es vorbei ist.

Olla sieht sich die Probe und die Auswahl für die Rolle des Engels noch bis zum Schluss an. Die meisten anderen sind schon gegangen.

Beim Gehen wirft sie noch einen Blick auf den Probenplan. “Jeden Tag Probe? Das würde ich ja gar nicht schaffen. Dafür habe ich ja noch viel zu viel zu tun.” Glücklich geht Olla Kirschbaum durch die weihnachtlich erhellten Straßen. Und denkt über ihr Vorhaben für den morgigen Tag nach.

Olla Kirschbaum möchte mit dem Zug in die nächstgelegene Großstadt fahren.